Frühlingsgefühle

Sie scheint vorbei zu sein – die dunkle, kalte Jahreszeit. Die ersten Knospen trauen sich heraus und früh hört man die Vögel singen. Ein klangvolles Gezwitscher dringt seit einigen Tagen wieder jeden Morgen durch unser offenes Schlafzimmerfenster und wie jedes Jahr wünsche ich mir, ich hätte ein Gewehr. Oder eine Steinschleuder.

Denn es ist 4:37 und seit 4:16 tiriliert dieser eine Vogel, dessen Namen ich nicht kenne, direkt vor unserem Fenster und ich kann nicht schlafen. Das Geräusch ist ohrenbetäubend und lässt mich an schlimme Dinge denken, die der Natur- und Artenschutz bestimmt nicht für gut befinden würde.

Aber ich bin grundsätzlich ein friedliebender Mensch. Und außerdem habe ich gerade keine Steinschleuder zur Hand. Und auch keine Steine. Zum Werfen. Und wenn ich welche hätte, würde ich den Vogel nicht treffen. Im Sportunterricht hatte ich im Werfen eine gutgemeinte fünf, mit einem Mitleidsplus.
Das Risiko, statt des Vogels meinen Mann zu treffen, der neben mir genüsslich und laut vor sich hinschnarcht, stufe ich als sehr hoch ein. Doch wenn ich recht darüber nachdenke – wäre damit zumindest eine Lärmquelle ausgeschaltet.

Ja, der Winter ist vorbei. Und es ist nicht nur der Vogel, der wieder da ist.
Jedes Jahr um diese Zeit ersuchen mich die gleichen düsteren, unangenehmen Gedanken – ich sollte mal wieder die Fenster putzen. Der Zustand ist besorgniserregend und es dauert wohl nicht mehr lange, da werden wir keine Gardinen mehr brauchen. Die Dreckschicht ist bereits im fortgeschrittenen Stadium und die Fenster erinnern an mattes Plexiglas.

Frühling ist die Zeit, in der ich merke ich, dass ich hochgradig übermotivierte Menschen nicht leiden kann. Die sind mir suspekt. Mein Mann zum Beispiel. Er macht bei uns die Wäsche und sobald die ersten warmen, sonnigen Tage anbrechen, fängt er an wie ein Wahnsinniger, alles wegzuwaschen, was ich nicht schnell genug versteckt habe. Denn wir sind ja nachhaltig und verzichten auf den Trockner.
Täglich hängen wir nun mehrere Ständer voll mit Kindersocken, Schlüpfern, T-Shirts, Hosen, Rucksäcken, Kuscheltieren, Dingen aus dem Keller, die ich noch nie gesehen habe, auf der Terrasse auf. Wir müssen uns Ständer von den Nachbarn leihen, weil unsere nicht ausreichen. Die ganze Terrasse ist voll mit Ständern. Ein Nachbar fragt uns, ob wir eine Wäscherei eröffnet hätten. Ich würde gern etwas nach ihm werfen.
Wir brauchen Stunden. In der Zeit habe ich alle Hörbücher von Harry Potter gehört und zwei Kilo abgenommen, denn ich hatte keine Zeit zum Essen. Ich musste Wäsche aufhängen. Und ich denke natürlich auch weiter. An die Zukunft. Irgendjemand muss diese ganze Wäsche auch wieder zusammenlegen und sie wie ein Logistikzentrum in die richtigen Schränke verteilen. Und mein Mann muss bald auf Dienstreise…

Ich kann hochgradig übermotivierte Menschen nicht leiden.
Wie zum Beispiel die, die vor dem Baumarkt oder beim vietnamesischen Blumenhändler stundenlang die Kasse blockieren, weil sie tausende Paletten von Veilchen und Gänseblümchen für den Garten oder den Balkon kaufen. Das sind dieselben Menschen, die Hochbete bauen und später mit ihren monströsen Kürbissen und gelben Zucchini angeben und sie im Büro jedem andrehen wollen. Manchmal habe ich das Bedürfnis, nachts in die Gärten dieser Menschen einzubrechen und ihre Hochbete umzugraben. Aber ich bin zu klein und zu unsportlich. Ich würde vermutlich auf keins dieser Hochbete klettern können. Oder an einer der Wände hängen bleiben.

Vielleicht bin ich einfach nur neidisch. Denn mit Pflanzenpflege kenne ich mich nicht aus. Ich habe einen sehr braunen Daumen. Wenn Orchideen irgendwann vom Aussterben bedroht sind, liegt es an mir – sie sterben alle in meinem Wohnzimmer. Ich beerdige sie im Biomüll und stelle mit sehr schlechtem Gewissen die verwaisten Blumenübertöpfe in einen Schrank. Damit anderen Orchideen nicht auffällt, dass schon wieder eine weggestorben ist, kaufe ich eine neue Orchidee. Dabei vergesse ich, dass ich schon ganz viele leere Übertöpfe habe und kaufe einen neuen.
Es ist ein Teufelskreis.

Auch mit Pflanzennamen kenne ich mich nicht aus. Als meine Tochter in der vierten Klasse einen Sachkundetest geschrieben hatte, zum Thema Pflanzen und Blumen, habe ich mit ihr freiwillig gelernt. Um wenigstens zu wissen, wie eine Petunie aussieht. Oder Ringelblume. Oder das Fleißige Lieschen. Was ist das überhaupt für ein dämlicher Name für eine Pflanze? Niemand nennt mich fleißige Olli, obwohl ich ganz sicher mehr tue, als nur herumzuphotosynthesieren.

Meine Tochter weiß sehr viel über die Natur. Sie weiß bestimmt auch, wie dieser Vogel vor unserem Schlafzimmerfenster heißt. Aber das würde mir nichts nützen. Wenn sie mit einer Steinschleuder umgehen könnte, schon. Oder wenn sie wenigstens Steine werfen könnte. Aber sie hat im Werfen auch nur eine vier.

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Antwort auf „Frühlingsgefühle”.

  1. Heide Witzka

    Eine wie immer urkomische Geschichte in typischer Olli-Manier, die das wahre Leben schreibt und jedem Leser sehr bekannt sein sollte. Ich habe mich jedenfalls direkt noch einmal rückversichert und in der Tat… es ist wohl kein Dauernebel in den letzten zwei Wochen da draußen gewesen und ich entschuldige mich auch in aller Form für meine nicht jugendfreien Ausfälligkeiten in dem offenen Brief an einen namenhaften Optiker … werde morgen Buße tun und putze wohl mal die Fenster. Freue mich jedenfalls auf viele weitere lustige kurzweilige Geschichten und den hoffentlich daraus resultierenden zaghaften Anflug eines Sixpacks. Ich möchte keinen Druck aufbauen aber … möglichst bald … der Sommer ist ja nicht mehr so lang hin! Hashtag Herzemoji Hashtag blosskeinDruck Hashtag gernewieder

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